Künstlerfamilie – Treffen sich zwei Fräuleins – Ode ans Risotto

Mein Vorzeigemodell und ich sitzen häufig auf Æblerø oder Pæreø und diskutieren bei einem Kaltgetränk oder einer herrlich duftigen Tasse schwarzen Tee über die verschiedensten Dinge. Neulich sprachen wir darüber, dass die Welt so klein geworden ist, aber wir Menschen uns doch immer fremder werden. Ein Phänomen, über das ich viel und lang nachdenken musste und zu dem Ergebnis gekommen bin, dass es immer einen Unterschied zwischen dem Fremden und dem Eigenen gegeben hat und immer geben wird. Man darf nur nicht die Neugier verlieren und das Interesse und den Mut, auf etwas Fremdes zuzugehen. Aber Stopp – bevor ich mit erhobenem Zeigefinger pauschalisierend meine Küchen- oder vielmehr Balkonpsychologie zum besten geben.

Ich überlegte weiter, wie es wohl gewesen ist, in Deutschland in den Fünfziger bzw. Sechziger Jahren. Und während sich die Filmrolle klackend drehte, färbte sich die Fantasie sepia…

Wir schreiben das Jahr 1967.

„Er kommt aus einer Künstlerfamilie!“ Zustimmendes Gemurmel, einige nicken. „Soso!“ Oder: „Aha!“ „Der Vater. Musiker.“ Wieder Zustimmung. „Und die Mutter?“ „Die? Ja die malt!“ Wieder Nicken. Dann nippen sie in Eintracht vom Bier, der Schaum macht ihnen Schnurrbärte. Zufriedenes Seufzen. Das Bierglas wird auf dem aufgeweichten Deckel abgestellt. Das kleine Mädchen, Luise heißt es, schaut in die Gesichter. „Was heißt denn Künstlerfamilie“? fragt es.

Der Vater spielt Geige, die Mutter Klavier. Sie hat eine glockenhelle Stimme. Man hört sie manchmal, wenn der Wind günstig steht. Die Kleider, die sie trägt, schmiegen sich an ihren Körper. Sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen und ihre Haare hat sie in Wellen gelegt. Sie ist das, was man schön nennt. Gepflegt. Sie zieht sich einen Lidstrich. Manchmal geht sie barfuß durch den Garten; dann hat sie die Hosenbeine hochgekrempelt. Luise könnte darum wetten, dass ihre Fußnägel lackiert sind – klatschmohnrot. Gesehen hat sie sie nicht. Manchmal stellt sie sich die Frauen der Familie vor wie Elfen, ätherische Wesen, die im Kreis durch den Hain tanzen. Mit Blütenkronen im Haar.

Plötzlich die Antwort auf Luises Frage: „Na, die sind anders!“ Und von den Bierbäuchen kommt zustimmendes Brummen.

„Ja und?“ fragt Luise.

„Die sind nicht wie Du und ich!“ brummt ein anderer Bierbauch. „Die schlafen bis Mittag, dann klimpern sie auf dem Klavier rum, und sie macht Kleckse auf die Leinwand.“

„Warum redet Ihr so abfällig?“ fragt Luise kleinlaut. Bis mittags schlafen, Klavierspielen und malen findet sie einen ziemlich guten Lebensplan.

Nun schnaufen die Bierbäuche. „Fräulein Naseweiß!“ kommt es ermahnend von der Theke. Die gute Ute steht dort mit Händen in den Hüften und streckt das nach vorn, was die Männergesellschaft gern als „ordentlich Holz vor der Hütte“ bezeichnet, wenn sie meinen, dass ihnen keiner zuhört.

Luise zuckt mit den Schultern. Die gute Ute ist nämlich gar nicht so gut, wettert über alles Neue und Fremde. Fräulein Naseweiß aber ist neugierig und schleicht sich wenig später am Bach entlang in Richtung Wald zu dem Häuschen, in dem die sogenannte Künstlerfamilie wohnt, positioniert sich hinter der Hecke.

Dahinter beobachtet sie ein Mädchen mit dunklen Haaren. Etwa 13 Jahre alt ist, so alt wie sie selbst, und sie geht in die Parallelklasse von Luises Schule. Sie spielt im Gras in ihrer eigenen Welt ein Spiel mit Ästen, Schneckenhäusern, Vogelfedern und Gänseblümchen. Luise findet es gar nicht fremd und möchte Teil dieser Welt sein, traut sich aber nicht. Plötzlich ruft jemand: „Francesca!“ Und Francesca blickt auf, schaut durch die Hecke und erblickt Luise. Die erstarrt. „Ciao!“ sagt Francesca und hält ihr ihre Hand hin, durch die Hecke. „Hallo!“ krächzt Luise und schaut in ein Paar dunkelbraune Augen. Francesca, der Name klingt so fremd in den Ohren – ganz anders als Gabriele oder Edeltraut. Aber schön!

Zögernd tritt Luise aus dem vermeintlich sicheren Versteck hervor, hält ihr eine Hand hin. „Luise!“ sagt sie. Francesca ignoriert Hand, zieht Luise an sich und küsst sie beherzt auf die Wange. Eine Weile blicken sich die Mädchen an, die eine mit dem mausbraunem Haar, den blauen Augen. Die andere mit den dunklen Locken und dunklen Augen. Dann zeigt sie Francesca Luise den Garten, deutet mal auf dies auf das, nennt italienische Namen für Kräuter und Pflanzen, die in einer Badewanne gepflanzt sind. Luise ist fasziniert von dem Neuen, dem Fremden und ein starker Entschluss reift in ihr: sie will die Familie kennenlernen!

„Willst Du mit uns essen?“ fragt Francesca und Luise ist erstaunt, dass sie so gut Deutsch spricht. „Gern!“ murmelt Luise und schaut verlegen zu Boden. „Ich wollte nicht neugierig sein…“ beginnt sie sich zu verteidigen. Francesca winkt ab, greift Luises Hand und geht mit ihr zu dem wunderschönen Häuschen. Alle Fenster sind weit geöffnet, die weißen luftigen Gardinen wehen halb über die Blau gestrichenen Fensterrahmen. Im Garten mit den schönsten Blumen ist ein Tisch gedeckt mit buntem Geschirr, Gläsern. In der Mitte steht eine Vase, in der Jungfer im Grünen stehen und Bartnelken. Francesca stellt Luise ihrer Mutter vor in einer Sprache, die sie nicht kennt und sie starrt auf ihre Füße – die Fußnägel sind Rot lackiert – klatschmohnrot! Luise blickt triumphierend auf, Francescas Mutter lacht sie an, bedeutet ihr, sich zu setzen. Verlegen nimmt Luise Platz, Francesca brabbelt los und erklärt alles.

„Das ist meine Mutter. Sie heißt Maria. Mein Vater, Nino, kommt später. Er ist noch auf der Arbeit! Meine Brüder, Michele und Cosimo, helfen noch bei meinem Onkel, Luigi.“

„Also seid Ihr gar keine Künstlerfamilie?“ rutscht es aus Luise heraus. Die Lippen von Maria werden schmal, sie zieht die Augen zusammen. Luise bemerkt, ohne dass sie ein Wort versteht, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat. Maria redet laut, gestikuliert und ist – wütend? Enttäuscht? Resigniert? Erschöpft setzt sie sich neben das Mädchen. „Scusi, kleine Luise!“ sagt sie. „Entschuldige!“ Maria seufzt. „Seit wir vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind, arbeiten wir. Wir arbeiten, mein marito – mein Mann,“ fügt sie an, „schuftet Tag und Nacht. Dann bekommt er einen Tag frei und er kann sich nur entspannen, wenn er spielt Klavier!“

„Und Mamma – sie malt. Porträts von den alten Damen aus dem Nachbarort! Und früh morgens putzt sie in der Schule.“

Luise blickt von Mutter zu Tochter und in ihr steigt Wut hoch, auf das dumme Stammtischgelabere, noch nicht mal Halbwahrheiten – das einzige, das wahr ist, ist, dass die Familie aus Italien gekommen ist 1956. Gastarbeiter. Gastarbeiterfamilie. Von wegen Künstler und bis mittags schlafen…Was „die gute Ute“ noch an Gemeinheiten von sich gegeben hat, möchte Luise gar nicht wiederholen, und sie schaut beschämt auf den leeren Teller. Maria streicht ihr über den Kopf, tätschelt ihrer Tochter die Wange, holt tief Luft und geht dann in die Küche…

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Die Filmrolle klackt, der Blick wird wieder Full HD, das Rauschen verklingt. Wie es wohl weitergegangen ist?

Vielleicht weiß Das liebe Marktfräulein was dann passierte?

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Am 20. Dezember 1955 – zehn Jahre nach Kriegsende – schloss die Bundesrepublik mit Italien das erste sog. Abwerbeabkommen ab. Weitere Abkommen folgten mit Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien.

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Und nun sitze ich auf meinem roten kuscheligen Cordsofa und schreibe diese Zeilen und freue mich, dass die Welt so bunt ist, dass wir nicht – wie vor 85 Jahre Literatur verbrennen, die den Horizont erweitert.

Und ich habe ein Risotto gekocht. Mit Spargel – grünem und weißem – Tomaten-Pesto, frischen Kräutern und cremig-buttriger Sauce. Und ein paar Meeresfrüchte!

Auf die Vielfalt!

Du brauchst:

  • 250 g Risotto-Reis
  • 250 g weißen und grünen Spargel, vorgekocht
  • Meeresfrüchte TK
  • 1 l Gemüsebrühe oder Spargelsud
  • Rotes Tomatenpesto aus dem Glas
  • 1 Stich Butter
  • 1 Schuss Sahne
  • Basilikum, Thymian, Rosmarin, Oregano
  • Salz, Pfeffer

Gebt den Risotto-Reis ohne Fett in eine Pfanne und röstet ihn kurz an. Dann gebt die Butter dazu, rührt gut um, sodass sich die Butter gut verteilt. Als nächstes gebt Ihr die Meeresfrüchte dazu, dann gießt mit Brühe oder Spargelsud auf, sodass der Reis gut quellen kann.

Wenn der Reis langsam die Brühe bzw. den Sud aufgesogen hat, gebt erneut Flüssigkeit dazu. Wenn der Reis noch sehr bissfest ist, gebt Ihr den Spargel – ich Stücke geschnitten – in die Pfanne. Rührt gut um, gebt eventuell noch etwas Flüssigkeit dazu. Dann schmeckt Ihr mit Salz, Pfeffer und ordentlich frischen Kräutern ab.

Wenn Ihr Lust habt, streut Ihr frischen Parmesan auf das Risotto.

Buon appetito wünscht Euch

Frøken Fluesvamp – Fräulein Fliegenpilz 🍄

11 Kommentare zu „Künstlerfamilie – Treffen sich zwei Fräuleins – Ode ans Risotto

  1. Auf die Vielfalt, Lumi Lumi! Die Geschichte von Francesca und Luise ist wirklich berührend und ich bewundere einmal mehr, wie viel Fantasie (und Witz ;-)) in deinem Herzen steckt. Und passend dazu gibt es ein italienisches Risotto. Das ist wirklich ein ganz feinsinniger Spannungsbogen. 🙂
    Ich komme ja aus dem tiefsten Ruhrgebiet, einer absoluten Gastarbeiter Hochburg und mein Opa war ja selber ein Bergmann und hat in einer Arbeitersiedlung gelebt. Für mich war es ganz normal inmitten verschiedener Kulturen aufzuwachsen. Da gab es nie Berührungsängste.
    Dieses Stammtisch Geseiere kenne ich natürlich trotzdem aber, wenn man von Kindheit an in mitten verschiedener Kulturen aufwächst, schult einen das irgendwie automatisch in Toleranz und dann prallen so dumme Vorurteile einfach von einem ab und das hast du ja ganz fein beschrieben – in dem Moment als Luise und Francesca sich schließlich persönlich kennen und schätzen lernen. Wirklich, danke für diesen tollen Beitrag. Da prasseln gerade tausend Kindheits-Erinnerungen auf mich ein und ich bin gerade selber ganz gespannt wie es mit den beiden weiter geht und was mithilfe deines wundervollen Beitrags bei mir entstehen wird, du Goldstück.

    Ich denke mein Beitrag wird nächste Woche kommen, denn ich sitze gerade mal wieder am Datenschutz und muss das erst aus dem Kopf haben. Seit vorgestern gibt es ein neues WordPress update – Version 4.9.6. angepasst an die neuen Datenschutz Bestimmungen. Bei manchen passiert dieses Update automatisch, andere (so wie ich) müssen es manuell herunterladen. Musst du mal googlen…

    Ich drück dich Kristina,
    von Herzen und immer wieder. ;-*
    Jenny

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  2. Liebe Kristina, du erzählst eine ganz zauberhafte Geschichte, wie sie nur in unserer Kindheit oder frühen Jugend passieren kann, bevor man sich im Alter Vorurteile und Schubladen zulegt. Der Spargelschnurbart steht dir ausgezeichnet und das Risotto ist der Knaller! Wenigstens weist unsere verehrte Marktfee auf deine Beiträge hin, wenn wp schon keine Lust dazu hat. Ich freue mich schon auf die Fortzetzung und wünsche dir eine sanfte Briese und kühle Getränke ❤

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    1. Ach Du Lieber! Ich danke Dir und freu mich soooo, dass Dir meine Geschichte gefällt. Aber was heißt schon Geschichte, es ist so wahr, du hast den Kern meiner Aussage sofort erkannt. Und das freut mich so sehr. Und danke für das Kompliment. Wäre ich Mann, würde ich Bart tragen 😂 da greift man doch mal zum Spargel!
      Und unter uns – WP kriegt von mir bald einen Ar…voll! Unglaublich, dass Du NIE NIE NIE benachrichtigt wirst!! Ich sende Dir schwül-warme Grüße aus dem Büro, denn ich muss arbeiten…Niedersachsen und so..,herzlichst, Kristina

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