Episode 3: Ein Geburtstag in Berlin – Jüdisches Museum – Teil 3 der Geburtstagsreise

„Das ist aber ein ungewöhnlicher Wunsch!“ sagt eine Kollegin zu mir, als ich – aus Berlin zurückgekehrt – im Büro stehe, ihre Glückwünsche entgegennehme und ich auf ihre Frage, was ich denn gemacht habe, antworte. Wir waren im Jüdischen Museum. Ich schaue sie an und überlege kurz. „Finden Sie?“ frage ich zurück. „Nun ja“, sagt sie, „die Architektur ist schon toll.“ „Hmm!“ mache ich ohne zu verneinen oder zuzustimmen und denke, nachdem die Kollegin das Büro verlassen hat, dass „toll“ irgendwie nicht das passende Adjektiv ist.

Natürlich ist es irgendwie toll, aber vielmehr ist dem Architekten Daniel Libeskind mit dem Bau etwas gelungen, das wohl keinem Geschichtslehrer bisher gelungen ist. Die Architektur erzählt auf eine ganz eigene, eindrucksvolle, beeindruckende Weise die Geschichte von über 6 Millionen Menschen mosaischen Glaubens eines der wohl dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. „Toll“ ist unpassend, trifft nicht den Kern.

Ich stehe im Büro und denke nach. Über meinen Geburtstag. Am 7. Januar taumeln wir durch die drei Achsen, und mir fällt es für den Bruchteil von Sekunden schwer zu atmen, so schwer drücken mir die Wände mit den Namen der Konzentrationslager auf meiner Brust. Wie kann das sein? Wie können Namen und nichtrechtwinklige Wände so eine Reaktion auslösen und ein Geschichtsbuch vermag es nicht? Es mag an dem Interview mit Daniel Libeskind liegen, das wir über den Audioguide hören, und an einem Satz, der sich in mein Herz gebohrt hat wie ein Stachel und dort festsitzt: „Stellen Sie sich einmal vor, sie müssten 6 Millionen Namen vorlesen!“

„6 Millionen Namen.“ wiederhole ich in Gedanken. Keine neue Information, natürlich, im Geschichtsunterricht gelernt, gehört, doch hier, in diesem Bau hallt dieser Satz wieder und wieder durch meinen Kopf. „Bergen-Belsen, Auschwitz, Theresienstadt…“. Ich merke, wie ich kurz davor bin, in Tränen auszubrechen, und ich gehe weiter durch die Achse des Holocaust. Nur mit dem Unterschied, dass ich umkehren kann.

Zwischendurch ziehen wir, mein Vorzeigemodell und ich, hörbar die Luft scharf ein. In den Schaukästen, an die man nah herantreten muss, um zu erkennen, was dort liegt, sehen wir Zeugnisse jüdischen Lebens – eine Menora, ein Foto, ein Abschiedsbrief.

Ich stehe dort und halte mich am Audioguide fest, als ein Abschiedsbrief vorgelesen wird, dann ein weiterer, eine andere Stimme und die Stimmen überlappen sich – wie in einem Kanon, bei dem die Einzelnen ihren Einsatz nicht richtig bekommen haben. Die Botschaft ist klar: sie kommen nicht zurück.

Wir schauen uns an. Mir geht es nicht gut. Prompt kommt die Frage aus dem Audioguide: „Wie geht es Ihnen?“ Mir ist elend. Eindrucksvoll steht nun das Ende der Achse des Holocaust vor mir – der Turm, und ich wage es, hineinzugehen – und gehe sofort wieder hinaus. Zu bedrohlich, zu dunkel, zu zukunftslos. Trotz des hellen Spaltes Licht ganz oben. Mir ist kalt. Und es prasseln zu viele Gedanken auf mich ein. Ich hatte die Chance, wieder hinauszugehen.

Mein Vorzeigemodell ist länger in dem Turm. Er sagt, dass ihm der schmale Spalt, in den das Licht von außen fällt, Hoffnung gegeben hat und reicht mir seine Hand als er wieder vor mir steht. „Wollen wir nochmal gemeinsam gehen?“ und ich gehe nochmal hinein. Gemeinsam ist es leichter. Doch wer ging schon gemeinsam – damals?

Erbarmungslos, unerbittlich, eiskalt, bösartig, sadistisch, brutal und mit größter Präzision. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz schreibe ich über meinen Besuch im Jüdischen Museum – das geht mir erst auf, als ich die Wochenendbeilage unserer Zeitung aufschlage.

Ich könnte zitieren, was dort steht – in dem Artikel, den Imre Grimm geschrieben hat, in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Seine Gedanken sind so klug, so wahr und so wichtig! Gegen das Vergessen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Wie auch das Jüdische Museum und die – nennen wir sie empathische – Architektur Daniel Libeskinds. Eine Architektur, die all das Leid und Elend vermag einzufangen, wenn man die Seele nicht verschließt.

Angekommen im Garten des Exils, den man erreicht, wenn man die Achse des Exils entlang geht, sieht man ein Zitat des Architekten:

„Man empfindet eine gewisse Übelkeit beim Hindurchgehen, doch das ist recht so, denn so aus den Fugen geraten, fühlt sich die vollkommene Ordnung an, wenn man als Exilant die Geschichte Berlins hinter sich lässt.“

Ich stehe hier, am 7. Januar 2020. Feiner Nieselregen fällt auf mein Gesicht und ich atme die kalte Luft ein. Heute ist mein Geburtstag und ich habe meine Familie, meine Freunde und darf gehen, wohin ich will. Und nein – ich empfinde meinen Wunsch alles andere als ungewöhnlich.

Stolpersteine in Berlin

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. (Quelle: Wikimedia)

5 Kommentare zu „Episode 3: Ein Geburtstag in Berlin – Jüdisches Museum – Teil 3 der Geburtstagsreise

  1. … die Stolpersteine finde ich auch in meinem Quatier, wohne ich doch im jüdischen Viertel… Ausschwitz‘ war eine der deprimierendsten und intensivsten Momente meines Leben… will schreiben… *umärmele* dich für diesen sensiblen Bericht…

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    1. …ich danke Dir für Deine virtuelle Umarmung und freue mich, dass meine Worte Dich erreicht haben. Es ist schon merkwürdig, dieser Beitrag scheint viele zu hemmen, zu kommentieren. Aber ich freue mich umso mehr, dass Du fühlst was ich sagen wollte. Und Du wohnst im jüdischen Viertel? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade diese Viertel die schönsten und blumigsten sind – was ich einfach ganz wundervoll finde. Ich umärmele Dich zurück liebstes Blumenmädchen 😘

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      1. … das sind sie… aber ich mag auch die die Orthodogen Kirchen in meinem Viertel und die protestantichen und christlichen und die Moschee… friedlichen Glauben leben ist ist ein Geschenk… für die Menschheit … und die Atheisten… Happy Birthday und Danke für diese Geburtstagslichtergedanken…

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